Was ist das?

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Godehard Stoll, der Vorstand des Bundesverband Osteopathie, erklärt im Interview mit GESUNDES BAYERN was Osteopathie ist, wie sie funktioniert und wem es hilft.

Godehard Stoll ist seit 26 Jahren selbständiger Physiotherapeut. Seit 2003 arbeitet er mit Osteopathie, ist seit acht Jahren im Vorstand des BVO (Bundesverband Osteopathie). Wir sprachen mit ihm über Wesen und Werden dieser Alternativmedizin.

Wie kamen Sie zur Osteopathie?

Nach der Ausbildung zum Krankengymnasten habe ich schon früh diverse Weiterbildungen gemacht. Osteopathie hat mich interessiert, weil es ganzheitlicher ist als die klassische Physiotherapie. Bei der kommt man irgendwann an seine Grenzen und merkt: Es geht nicht nur um das rein lokale Problem – also „da, wo es weh tut“ –, sondern man entdeckt Zusammenhänge zu weiteren Stellen, zu Organen und anderen Systemen im Körper. So kam ich dann zur Osteopathie, einer überwiegendsanften Methode, Menschen ganzheitlich und nachhaltig zu untersuchen und zu behandeln.

Welches grundlegende Konzept steht dahinter? 

Die Osteopathie beruht auf drei Säulen – dem parietalen System, das betrifft Muskeln, Bänder und Sehnen, dem craniosacralen System, das den Körper vom Kopf bis zum Becken betrachtet, und dem viszeralen System, also den Organen.

Wie funktioniert eine osteopathische Behandlung?

Wir behandeln manuell, also mit unseren Händen, ohne irgendwelche Geräte. Dabei fühlen wir in den Körper hinein, ertasten das Gewebe Schicht für Schicht und erspüren sowohl tieferliegende Strukturen wie Muskeln, Faszien und Knochen als auch Nerven, Blutgefäße und die inneren Organe. Daran können Bewegungseinschränkungen diagnostiziert und dann behandelt werden. Es kann schon mal zu starken Mobilisationen kommen, die mit kräftigem Druck ausgeführt werden, also auch Schmerzen verursachen. In aller Regel aber sind es sanfte Bewegungen, wobei viele Patienten nach einer Stunde aufstehen und sagen: Sie haben jetzt nur die Hand draufgelegt, aber mir geht es irgendwie besser. Mit drei, vier Osteopathie-Behandlungen erreicht man in der Regel mehr als mit 20 mal 20 Minuten Physiotherapie.

Woran erkenne ich einen guten Osteopathen? Wie funktioniert die Ausbildung?

Osteopathie ist Heilkunde und darf damit nur von Ärzten und Heilpraktikern ausgeübt werden. Es gibt es im Wesentlichen zwei große Berufsverbände, den VOD und uns, den BVO. Unsere Mitglieder haben eine fünfjährige Ausbildung absolviert und mit einer Prüfung abgeschlossen. Lassen Sie sich immer ein Abschlusszeugnis zeigen, dass diese komplett abgeschlossene Ausbildung bescheinigt. Egal ob Arzt, Heilpraktiker oder Physiotherapeut – das ist das wesentliche Qualitätsmerkmal. Ein Zertifikat über einen Wochenendkurs ist zu wenig.

Bei welchen Beschwerden können osteopathische Behandlungen helfen?

Letztendlich von A bis Z. Oft ist es so, dass Menschen zum Osteopathen gehen, wenn sie mit der klassischen Physiotherapie nicht mehr weiterkommen. Es kann ein nicht funktionierendes Kniegelenk sein, es können chronische Schmerzen, aber auch Aufmerksamkeitsdefizit-Symptome bei Kindern sein. Das geht wirklich querbeet. Mit frischen Verletzungen, direkt nach einer frischen Hüft- oder Knieoperation etwa, also bei postoperativen Angelegenheiten, haben wir weniger zu tun. Aber wenn die Operation nicht den gewünschten Erfolg gebracht hat oder wenn chronische Schmerzen da sind, egal wo am Körper, dann ist die Osteopathie das Mittel der Wahl. Und auch bei der Nachbehandlung von Corona-Patienten, die beatmet wurden, können wir helfen, um sie wieder auf den Damm zu bringen.

Können Sie uns ein spezielles Beispiel geben, wann Osteopathie sinnvoll ist?

Bei einem Supinationstrauma etwa, wenn Sie beim Sport umgeknickt sind, die Außenbänder überdehnt oder sogar angerissen sind. Das kann einen Reiz bis hin zum Becken, am Iliosacralgelenk, verursachen, der so groß ist, dass sich das Gelenk verändert.

Und das kann über Jahre hinweg unbemerkt bleiben. Fehlstellungen kann der Körper zunächst kompensieren, im Alter aber leider nicht mehr. Und dann gibt es Schmerzen im Iliosacralgelenk, die sich über die Lendenwirbelsäule, die Faszien und anatomisch zusammenhängende Strukturen fortpflanzen bis zur linken Schulter, oder die auch zu Kopfschmerzen oder Kiefergelenksbeschwerden führen können. Das beruht rein auf anatomischen Zusammenhängen, die ein Physiotherapeut oder Chiropraktiker nicht so kennt.

Wie unterscheidet sich Osteopathie von Chiropraktik?

Die Osteopathie ist ein deutlich ganzheitlicherer Ansatz, denn hier wird ja nicht nur der Knochen behandelt, sondern auch, was alles an ihm dranhängt. Das kennt fast jeder: Man hat sich etwas verrenkt, geht zum Physiotherapeuten oder Chiropraktiker, der macht ‚knack-knack‘ – und dann geht’s wieder. Wenn das richtig gemacht wird, kann es helfen. Meist ist dieses knack-knack aber nur eine Momentaufnahme, nur eine Druckveränderung im Gewebe. Der Knochen mag dann wieder eingerenkt sein, aber die Muskeln, Sehnen und Bänder haben sich nicht verändert und am nächsten Tag ist der alte Zustand wieder da. Und deshalb muss man nicht nur schauen, wo es weh tut, sondern immer den ganzen Körper betrachten.

Wie wirkt Osteopathie im Zusammenhang mit den Organen?

Die Organe spielen eine sehr große Rolle, und das ist der Unterschied zur Physiotherapie. Osteopathen sind keine Wunderheiler, aber sie haben einfach durch die langjährige Ausbildung wesentlich mehr anatomischen Einblick in den Körper. Dabei schauen wir uns ja auch Leichenpräparate an, um zu lernen, wie es aussieht, was wir da über die Bauchdecke, den Kopf oder den Muskel fühlen. Nach einer gründlichen Anamnese sehen wir uns auch die Laborbefunde an, vergewissern uns, dass die Leber-, Nieren- und Blutwerte okay sind. Dank unserer Ausbildung wissen wir zum Beispiel, dass Knieschmerzen von der Blase herrühren können oder Schulterbeschwerden von der Leber. Man denkt, der Nacken sei verspannt, dabei hängt das eher mit der Lunge zusammen – die ist an der ersten Rippe aufgehängt, die unterhalb vom Schlüsselbein sitzt. Wichtig sind die Faszien, die uns umhüllen. Die Haut ist die äußerste Schicht und dann geht es immer tiefer. Die Faszien unter unserer Haut stellen Verbindungen her, etwa dass der Bauch am Zwerchfell hängt und das Zwerchfell wie eine Zirkuskuppel zwischen Brust- und Bauchraum aufgespannt ist, an dem unten die Organe dranhängen.

Wie ist der Begriff Osteopathie eigentlich entstanden?

Andrew Taylor Still hat vor über 120 Jahren in Amerika die erste Osteopathie-Schule gegründet. Er ging zunächst sehr vom mechanischen Aspekt aus und der Begriff Osteopathie ist eigentlich falsch, er stammt von Osteo – der Knochen – und Pathos, Leiden oder Schmerz, also Osteopathie, das Leiden der Knochen. Andrew Taylor Still dachte, jedes Leiden gehe vom Knochen aus, und daher hat er zunächst die Knochen chiropraktisch, also manualtherapeutisch behandelt. Dabei hat er gemerkt, dass das nicht ganz ausreicht, denn es gibt ja auch noch Faszien, Organe, Bänder, das craniosacrale System. Und das floss nach und nach in seine Erkenntnisse mit ein. Der Begriff Osteopathie ist dann aber geblieben.

Kann Osteopathie schon bei Kindern angewandt werden?

Ja. Für die Behandlung von Kindern braucht man spezielle anatomische Kenntnisse, deshalb gibt es auch in der Osteopathie eine Spezialausbildung, wo es um Kinder und Säuglinge geht. Kinder haben eine viel weichere Knochenstruktur und die Organe liegen noch nicht da, wo sie sich später befinden. Im Bauchraum ist es dann noch sehr eng. Ab einem Alter von vier bis sechs Wochen kann man Kinder behandeln, etwa bei Schiefhals, einer Schädeldeformität oder bei Schluckproblemen. Auch bei Stillproblemen, Schreikindern oder später ADHS (Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Syndrom) kann Osteopathie helfen.

Wie oft muss ich zum Osteopathen?

Eine Sitzung dauert in der Regel eine Stunde. Nach drei, vier Behandlungen mit jeweils zwei- bis vierwöchigen Pausensind die Patienten deutlich schmerzbefreiter als nach derselben Anzahl von Physio-Terminen. Manchmal merken sie aber auch erst später eine nachhaltige Wirkung. Ich habe mal den Begriff vom Kachelofen-Effekt geprägt: Bis der eingeheizt ist, dauert es eine Weile – wenn er dann nicht weiter befeuert wird, wärmt er dennoch eine lange Zeit nach. Und so ist es bei der Osteopathie auch. Nach dem ersten Mal merkt man vielleicht wenig, sondern erst nach dem zweiten, dritten Mal. Dann erst arbeitet der Körper an den Problemen und dann sind sie irgendwann weg. Es ist ein Prozess, der da im Körper ausgelöst wird, den man als Osteopath begleitet.

Woran kann ich erkennen, ob mein Osteopath seriös ist?

Es gibt es im Wesentlichen zwei große Berufsverbände, den Verband der Osteopathen, kurz VOD und uns, den Bundesverband Osteopathie. Unsere Mitglieder – überwiegend sind das Physiotherapeuten – haben die fünfjährige Ausbildung mit rund 1500 Stunden absolviert und mit einer Prüfung abgeschlossen. Lassen Sie sich ein Zeugnis zeigen, das diese komplett abgeschlossene Ausbildung bescheinigt.

Was kostet eine Behandlung? Übernimmt meine Krankenkasse die Kosten?

In der Regel dauert eine Behandlung zwischen 40 und 60 Minuten, und weil es eine Privatleistung ist, gibt es eine Preisspanne von etwa 50 bis 300 Euro pro Stunde. Bei mir zum Beispiel sind es 130 Euro für eine Stunde und 95 für 40 Minuten. Osteopathie ist keine Kassen-, sondern eine Satzungsleistung. Wenn der ausübende Osteopath bei einem Berufsverband ist und die vollständige Ausbildung hat, übernehmen die allermeisten Krankenkassen anteilig osteopathische Leistungen, meist etwa 30 Prozent der Kosten. Ein Rezept darf jeder Arzt ausstellen, in der Regel ist es der Orthopäde oder der Hausarzt. Und auch die grünen Scheine, die vom Heilpraktiker kommen, werden meist anerkannt.