Ich-Zeit im Wald: Nichts ist dann wichtiger als man selbst
Es ist ein epischer Anblick, der mich sofort zur Ruhe kommen lässt. Ich sehe erst nur senkrecht nach oben aufragende Stämme, Baumkronen, und darüber das milde Weiß des Winterhimmels. Dann fallen mir an der alten Fichte ein paar Details auf. Die graubraune Borke ist schuppig. Die abstehenden Äste sind dünn wie die Spinnenfinger einer Märchenhexe. Hier hat der Borkenkäfer geknabbert, dort ein Specht geklopft. Ich muss mich nicht zwingen, den Moment zu genießen: Die Natur sorgt dafür, dass ich im hier und jetzt sein kann. Die Aufgaben des Alltags, die To-Do-Listen im Job, das ganze Gedankenkarussell – alles, was sonst meine Aufmerksamkeit einfordert, belastet mich jetzt auf einmal nicht mehr.
Ins Kronendach des Waldes zu schauen, ist ein Moment zum Träumen
Schon der erste Moment im Kurwald von Bad Neualbenreuth ist also einer zum Träumen. Klingt zu pathetisch? Fakt ist: Gerade in der Oberpfalz angekommen, bin ich schon ziemlich hin und weg. Denn weil ich mit Michael Rückl unterwegs bin, der hier das Waldgesundheitstraining anleitet, begegne ich den Bäumen im Wald nicht auf Augenhöhe, so wie bei einem normalen Spaziergang. Heute Nachmittag geht es darum, die Natur intensiv zu erleben, und das funktioniert gut mit einem Perspektivwechsel. Deswegen stehe ich also nicht auf meinen Beinen, sondern liege ausgestreckt auf dem Waldboden. Eine Isomatte schützt mich vor der Kälte und meine Klamotten vor dem feuchten Schnee. Ich lege den Kopf in den Nacken – und schaue einfach nur senkrecht nach oben.
Ab ins Waldwinterwunderland! Nur für die Hängematte ist’s zu kalt
Im Sommer hängen die Trainer hier Hängematten in die Bäume, damit man das Erlebnis richtig auskosten kann. Jetzt im Winter ist es dafür zu kalt, wir müssen uns mehr bewegen. Doch ganz auf die Wahrnehmungsübung verzichten muss ich nicht. Ich habe meinen Körper extra wie eine Zwiebel in vielerlei Lagen dick in Wolle und Fleece eingepackt, um das Waldwinterwunderland besuchen zu können und es recht lange auf der Isomatte auszuhalten. Und werde belohnt.
Tief einatmen: Ich will die Atmosphäre des Waldes in mich aufsaugen
Ab und an, wenn ein Windhauch durch den Wald streift und zu einem Rauschen anschwillt, rieselt Raureif von den dick eingepackten Nadeln. Die Eiskristalle blitzen im schräg einfallenden Licht wie funkelnde Diamanten. Ich spüre den einen oder anderen Tropfen, und einmal schafft es sogar eine große Eisfeder bis zu mir nach unten. Sie landet – Mutter Natur führt eine geniale Regie – direkt auf meinem Mund. So kann ich spüren, wie die Kristalle schmelzen und meine Lippen benetzen. Noch ein extra tiefer Atemzug: Ich will die Atmosphäre des Waldes in mich aufsaugen, um sie tief in mir zu speichern.
Safari für alle Sinne: Waldgesundheitstraining ist mehr als ein Spaziergang
Auch wenn ich dort leider nicht jedes Mal so zart geküsst werde: Im Wald zu sein, tut mir immer gut. Doch dass ich mich so schnell so wohl fühlen, dass die Anspannung so schnell von mir abfallen würde, hätte ich aber nicht erwartet. Sehen, hören, riechen, fühlen, ja sogar schmecken: Statt auf einem entspannten (aber ereignislosen) Spaziergang unterwegs zu sein, entpuppt sich das Waldgesundheitstraining als Safari für wirklich alle Sinne. So lässt sich die natürliche Heilwirkung des Waldes voll ausschöpfen.
Die Natur als Medizin: Wald hilft bei Stress und zu viel Anspannung
Michael Rückl hat neben vielen Übungen zu Achtsamkeit und Wahrnehmung auch die medizinischen Fakten drauf. „Schon nach 20 Minuten im Wald sinkt die bei vielen Menschen die Konzentration des Stresshormons Cortisol“, sagt er. Belegt haben Forschende auch, dass der Sympathikus herunter fährt – jener Teil des vegetativen Nervensystems, der bei Anspannung und Gefahr aktiviert wird. Für mich als Laie klingt das so, als ob der Körper einen Kurzurlaub genießt. Und zwar von Kopf bis Fuß: „Der Blutdruck sinkt, der Puls wird langsamer. Mit der Zeit profitieren von der Zeit im Wald auch die Arterien und die Lunge.“
Reise zum Mittelpunkt Europas: Die Landschaft ist puderzuckerweiß
Für das Programm lohnt es sich, nach Bad Neualbenreuth zu fahren – und dort festzustellen, dass der Marktflecken auch sonst eine Reise wert ist. Der Ort liegt direkt an der tschechischen Grenze und rühmt sich als Mittelpunkt Europas, weil das mal jemand so vermessen haben soll – wobei niemand so vermessen ist zu glauben, dass genau deswegen jetzt die Busse mit Touristen anrollen. Es ist eher die hügelige Landschaft, die Radfahrer und Wanderer in die Oberpfalz lockt – auch jetzt im Winter, wenn nachts die Temperatur auf frostige Minusgrade fällt und die Landschaft wie mit einem Puderzuckerstreuer weiß eingestäubt wird.
Menschen leben in Bad Neualbenreuth zwar nicht allzu viele (weniger als 1500), aber diejenigen, die man trifft, haben alle ihr Projekt. Da gibt es Maria Müller, eine Spezialistin für die Selbstversorgung mit essbaren Wildpflanzen, mit der selbst Veganer auf die Jagd gehen können und zu jeder Jahreszeit reiche Beute machen. Selbst jetzt im Winter haben Vogelmiere und Löwenzahn frisches Grün, es gibt Brombeerblätter, Giersch und Nelkenwurz: „Mit einer kleinen Menge an Wildpflanzen kann man seinen Bedarf an Mineralien und Vitaminen besser decken als mit Kulturgemüse.“ Bitterkeit muss man aber mögen. Und wenn nicht? Mir passt die wilde Ernte gemixt als Smoothie besser als im Salat.
Waldschrat? Künstler? Ferdl Peterhans macht jedenfalls coole Skulpturen
Kennen lernen kann man auch den Ferdl Peterhans, der sein Leben lang mit Holz zu tun hatte und jetzt eine neue Karriere als K... Moment! Seine Anweisung war ja eindeutig gewesen: „Kannst schreiben, dass ich ein Waldschrat bin. Aber nenn mich ja nicht Künstler!“ Zu Befehl: Der Mann, der mit dem Holz spricht (so der Slogan auf dem T-Shirt) sammelt Totholz und fräst, hobelt, sägt und poliert daraus abstrakte Skulpturen. Wenn der Pilz in eine alte Birke kriecht, freut er sich besonders: Das gibt dem Stamm die schönsten Marmorierungen.
Hier heißes Heilwasser, dort coole Kunst: Ein guter Mix
In der Therme tauche ich zwischendurch für den Wärme-Kick ab, der im Winter besonders guttut: Bad Neualbenreuth ist das jüngste Heilbad Bayerns, das will ich nutzen. Die Radontherapie gibt es im Sibyllenbad zwar nur auf Rezept, doch die prickelnde Frische der kohlensäurehaltigen Sibyllenquelle spüre ich auch in der Badelandschaft. Ziemlich cool ist übrigens, was ein paar Kilometer weiter im Ortsteil Maiersreuth passiert: Dort steht noch das kleine, 1989 als Testprojekt gebaute Badehaus. Ausstellungen, Musik, Theater: Ein Verein um die rührige Künstlerin Susanne Neumann ist dabei, den Ort neu zu beleben. Wo früher Gäste plantschten, ist nun eine coole Location für Installationen entstanden.
Waldbaden oder Waldgesundheitstraining? Ich bin für mehr Kompetenz
Klein, aber oho: Das ist für mich Bad Neualbenreuth, das übrigens keiner meiner Freunde kannte. Als ich ihnen erzählte, ich würde bald zum Waldbaden gehen, war dagegen niemand überrascht. Waldbaden ist leider längst zum Wellness-Trend mutiert, den inzwischen auch x-beliebige Hotels für sich entdeckt haben. Mich stört, dass bei vielen Angeboten nicht klar ist, ob die Qualität stimmt und ein Konzept dahinter steckt. Um sich abzugrenzen, sprechen sie in Bad Neualbenreuth deshalb ganz bewusst nur vom Waldgesundheitstraining. Das gibt es wöchentlich bei mehrstündigen Exkursionen, übers Jahr verteilt werden aber auch Waldgesundheitstage und eine Waldgesundheitswoche organisiert.
Das Programm hat Hand und Fuß: Das Waldgesundheitstraining wurde vom Bayerischen Heilbäder-Verband gemeinsam mit dem Lehrstuhl für Public Health an der Ludwig-Maximilians-Universität München entwickelt. Umgesetzt wird es nun bereits in 15 Pilotorten im ganzen Freistaat. Um Gäste im Kurwald anzuleiten, absolvieren die Wald-Gesundheitstrainer eine spezielle Ausbildung, organisiert vom Kneipp-Ärztebund. Dort gibt es inzwischen auch Fortbildungen, um als Waldtherapeut Patienten bei der Behandlung von Krankheiten zu helfen.
Wärme, Kälte und Gerüche: Ich spüre den Wald in all seinen Facetten
Bei mir geht’s dagegen um Prävention und Wohlbefinden: Ich gehe mit Michael Rückl in den Wald, weil ich dort entspannen kann das auch genießen darf. Geredet wird also unterwegs nicht viel: Wichtiger ist es, beim Wandern bewusst und im guten Rhythmus zu atmen. Wir spüren die Kälte des Schiefergesteins und die Wärme alter Baumriesen, kosten frisch gefallenen Schnee (schmeckt nach nichts) und zerquetschte Douglasiennadeln (duften wunderbar nach Zitrone).
Doch das Schönste ist, auf die Geräusche im winterlichen Wald zu achten.
Der Schnee dämpft viele Geräusche. Doch im Holz knackt der Frost
Zwar dämpft der Schnee viele Laute: Es scheint, die Stille habe sich wie eine dicke flauschige Decke über die Landschaft gelegt. Doch als ich die Augen schließe und mich konzentriere, höre ich auch das Rascheln einer Maus, das Krächzen einer Krähe – und das geheimnisvolle Knacken und Knistern des Frosts in den Baumstämmen.
0 Kommentare
Die Kommentarfunktion ist für diesen Artikel deaktiviert.