Ich höre nichts. Naja, fast nichts: Bei jedem Schritt knirscht es unter meinen Schneeschuhen, die ich mit einem Drehverschluss um meine Wanderschuhe befestigt habe. Und auch mein Atem ist nicht zu überhören. Ansonsten aber schluckt das magische Weiß den Rest der Geräusche. Puh! Nach dem ersten Anstieg im Zickzack brauche ich erst mal eine kurze Pause, bleibe stehen, lehne mich auf meine Schneestöcke, atme tief ein, puste einen winterlichen Nebel aus – und lasse meinen Blick schweifen.
Nach stressigen Wochen zu Hause in München gönne ich mir einen Tag Time-out hoch über Garmisch-Partenkirchen. Hinter dem Hügel rechts lugt die Zugspitze hervor, davor pikst die pyramidenartige Alpspitze ins strahlende Blau. Bei der guten Luft hier oben wundert es mich nicht, dass der Markt offiziell ein heilklimatischer Kurort der „Premium-Class“ ist: Das Engagement für ein prima Klima und eine geschützte Natur haben hier besondere Priorität – und dafür wird einiges getan: regelmäßige Feinstaubmessungen etwa, eine gezielte Ortsplanung und effektive Forstprogramme helfen, dass Mensch und Natur im Einklang bleiben.
Rutschfest durch grenzenloses Weiß
Neben mir wandert Simone Reiter durch den Schnee, sie ist Klimatherapeutin und begleitet Gäste wie mich, um ihnen die positiven Effekte des luftigen Heilmittels näher zu bringen. Die Tour durch das sanft-hügelige Gebiet abseits des Skigebiets der Hausbergbahn war ihre Idee – und ist genau die richtige für einen Schneeschuh-Newbie wie mich. „Du kannst eigentlich gar nichts falsch machen“, sagt sie gleich zum Start. „Heb nur die Beine etwas höher, dann ist es weniger anstrengend.“ Unter den Big-Foot-gleichen Sohlen sind außerdem Krallen, sie verhindern, dass ich im Schnee zurück rutsche. Dazu machen ausklappbare Bügel unter den Fersen den Aufstieg angenehmer.
Auch wenn man fürs Schneeschuhwandern nicht viel können muss, fühle ich mich anfangs manchmal wackelig und finde es körperlich durchaus anspruchsvoll: Ich weiß schnell, wo ich – als pandemiebedingt relativ untrainierte, aktivitätenlose Schreibtisch-Täterin – morgen Muskelkater haben werde. „Schneeschuhwandern beansprucht den ganzen Körper mehr als Wandern“, bestätigt mich die Expertin. „Der Untergrund zum Beispiel ist unebener, das fordert das Gleichgewicht heraus. Und je nach Schneebeschaffenheit sinkt man unterschiedlich stark ein. Das macht es mal einfacher, mal anstrengender.“
Prävention im Pulverschnee
Dazu kommt natürlich das Heilklima, das hilft gesund zu bleiben oder gesund zu werden. „Einer der Reizfaktoren ist zum Beispiel, ob die Strecke flach oder ansteigend ist“, erklärt mir Simone Reiter. „Auch die Höhe, auf der wir uns befinden, hat Einfluss. Oben atmet man unbewusst viel tiefer ein. Das liegt am anderen Druck, der die Lungen besser belüftet und uns dieses Gefühl von ‚guter Luft’ gibt.“ Dazu kommt das Spektrum des Lichts, das in den Bergen intensiver ist und den Körper mehr Vitamin D produzieren lässt. Plus: der Effekt von thermischen Reizen wie Wind, Sonne und Kälte.
Als wir den ersten Berg geschafft haben, zieht sich Simone Reiter deshalb eine ihrer Jacken aus und rät mir, es auch auszuprobieren. Die Kraft der Natur wirkt ideal, wenn sich der Körper leicht kühl anfühlt. „Nur frösteln solltest du nicht, dann pack dich lieber wieder wärmer ein.“ Thermoregulation nennt sich dieser Trick, der den Körper abhärtet. Also Stecker in den Schnee piksen, Rucksack runter, Fleecejacke unter meiner Skijacke ausziehen, an den Rucksack klemmen, Skijacke wieder anziehen. „Bisschen umständlich ist das schon“, sage ich zu meiner Begleiterin. „Aber sehr effektiv“, antwortet sie. „Es lohnt sich!“
Frischer Wind für Körper und Geist
Warum diese Art der Abhärtung überhaupt notwendig ist, liegt an unserem vornehmlich drinnen stattfindenden Leben mit mangelnder Bewegung und fast immer gleicher Raumtemperatur. „Der Organismus verlernt dadurch oft, sich an äußere Reize anzupassen“, sagt Simone Reiter. Körper und Seele sind so weniger belastbar, dazu schwächeln die Abwehrkräfte. Deshalb also nimmt man vielleicht jede Erkältung mit. Möglicherweise pumpt auch das Herz nicht so gut wie es eigentlich sollte. Oder es ist vor allem die Psyche, die leidet: Weil das Nervensystem mit Immunsystem und Stoffwechsel zusammenhängt, fühlen wir uns unwohl, gestresst, traurig. Kenn ich …
Doch mit den Helfern unter meinen Schuhen merke ich, wie schnell es mir besser geht: Die Natur erdet mich und ich fühle mich hier oben freier. Der Ballast des Alltags muss da unten irgendwo zurückgeblieben sein. Ich stapfe über ein Bächlein, sehe Gamsspuren in sonst unberührtem Schnee, höre Vögel zwitschern. „Lass dich ruhig ein bisschen in den Schnee sinken“, ermutigt mich Simone Reiter, als sie beim ersten schrägeren Bergab mein Zögern bemerkt. Und tatsächlich: Die Schuhe fangen mich wie stabile Netze auf, ich rutsche nicht, sondern gleite ein paar Zentimeter wie auf Skiern, bis ich wieder festen Schneeboden unter den Füßen habe. Das macht richtig Spaß!
Nachweislich gesundes Klima
Dass sich Klima positiv auf den Körper auswirken kann, weiß man schon seit den 1880er-Jahren. Inzwischen ist der Effekt wissenschaftlich erwiesen. Wetterfühligkeit etwa, Stress und saisonale depressive Verstimmung lassen sich so gut lindern. Auch die Durchblutung und der Stoffwechsel werden hier fitter, was bei Schlafstörungen und Überlastung hilft. Zudem stärkt das Heilklima Herz, Kreislauf, Immunsystem – und tun den Menschengut, die Allergien, Asthma oder andere Probleme mit den Atemwegen haben. „Sogar bei Long-Covid dürfte es helfen“, sagt Simone Reiter. „Wir haben damit zwar noch nicht so viel Praxiserfahrung, wissen aber ja, dass es die Lungen entlastet und den Körper auf Vordermann bringt.“
Auf einer erhabenen Kuppe machen wir die nächste Rast. „Trink am besten ein paar Schlucke“, rät mir meine Begleiterin – und zeigt mir währenddessen die ganze Pracht um uns herum: „Da hinten siehst du die Skisprungschanze, der Weg daneben führt in die Partnachklamm. Die Gipfel dahinter gehören zum Wettersteingebirge. In der kleinen Senke dort rechts liegt der Schachen mit dem kleinen Schloss von König Ludwig II. Und wir gehen jetzt in den Wald da vorne, danach kommt schon die Alm.“ Ui, Essen. Hunger!
Der Einkehrschwung geht auch ohne Ski
In der Kochelberg-Alm ist die Zeit stehen geblieben: In den Zweigen rund um die Terrasse hängen Vogelhäuschen, ein Mops streift um die Tischbeine, die Karte verspricht Leberkäs mit Spiegelei und Kartoffelsalat oder Bratwurst mit Kraut, dazu Graubrot auf rot-weiß-karierter Serviette. „Wer sich bewegt hat, darf ruhig essen“, sagt die Expertin. „Vielleicht keinen schweren Schweinebraten, um den Berg wieder halbwegs leichtfüßig runterzukommen. Aber Wurst, Suppe oder auch Kaiserschmarrn sind schon okay. Wenn du danach noch kannst: Nimm die Eierlikörnusstorte, von der schwärmen alle“, sagt Simone Reiter. Ich kann – und bin im Hüttenhimmel.
Der Rückweg ist leider viel zu schnell geschafft, finde zumindest ich. Doch dass ich nicht komplett ausgepowert bin, ist genau richtig: „Die ideale Route ist die, die dich weder über- noch unterfordert“, erklärt mir die Klimatherapeutin. Denn der Körper sollte sich erst mal an die Klimareize gewöhnen. Wäre ich ein paar Tage länger hier – oder drei Wochen, wie es für den optimalen Effekt empfohlen wird –, würde Simone Reiter meine Routen nach und nach herausfordernder wählen.
Doch schon nach dieser eher entspannten Tour spüre ich, das sich etwas verändert hat. Während wir den steilen Hang vom Anfang im Zickzack wieder runter gleiten, erscheinen mir die Berge ringsum noch erhabener. Der Blick auf die verstreut liegenden Stadel auf der Wiese im Tal entlockt mir einen tiefen Seufzer. Ich bin zufrieden, habe sprichwörtlich wieder festeren Boden unter den Füßen, sehe klarer, atme freier. Und möchte mir schnellstmöglich wieder die Schneeschuhe unter die Füße schnallen. „Simone, was machst du morgen?“
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